Der Page und die weiße Schlange

Claudio de Ceola

 

 „Kein Volk gibt es, mag es noch so fein und gebildet,

noch so roh und unwissend sein, das nicht der Ansicht wäre,

die Zukunft könne von gewissen Leuten erkannt und vorhergesagt werden.

CICERO – Von der Weissagung

 

Es ist nun schon lange her, da lebte ein König, dessen Weisheit im ganzen Lande berühmt war. Nichts blieb ihm unbekannt und es war, als ob ihm Nachrichten von den verborgensten Dingen durch die Luft zugetragen würden.

Er hatte aber eine seltsame Sitte: Jeden Mittag, wenn alles Essen von der Tafel abgetragen und niemand mehr bei ihm war, mußte der Page kommen, dem er am meisten vertraute, und ihm noch eine Schüssel aus schwarzem Porzellan bringen. Diese war aber zugedeckt und der Page wußte nicht, was sich darin befand, und auch im Schloß wußte es niemand und kein Mensch wußte es, denn der König deckte die Schüssel nicht eher auf, bis er ganz alleine war.

Das war schon lange Zeit so gegangen, da kam eines Tages die Tochter des Königs und sprach zu dem Pagen:

„Wenn du wieder die schwarze Schüssel zum König bringst, schau hinein, was darin ist. Ich möchte, daß mein Vater nur die besten Gerichte bekommt, und wenn sich nichts Gutes in der Schüssel befindet, so werde ich ihm selbst etwas bereiten.

Und die Prinzessin meinte auch, was sie sagte.

Am nächsten Tag begab sich der Page mit der Schüssel in seine Kammer, verschloß sorgfältig die Türen und hob den Deckel ab. Da aber sah er, daß eine weiße Schlange darin lag. Bei ihrem Anblick konnte er seine Lust nicht zurückhalten zu probieren, wie sie schmecken würde. Er faßte die Schlange und wollte gerade ein Stück von ihr abbeißen, als die Schlange zu ihm zu sprechen begann:

„Ich sehe, daß du nicht bösen Willens bist und mich kosten möchtest, weil dich mein Anblick so reizt. Wenn du mich aber verschonst, werde ich dir alle deine Wünsche erfüllen.“

„Ich will nur frei sein, reisen dürfen und mir die Welt anschauen“, antwortete der Page.

Da sagte die Schlange:

„Weil du den schönsten Wunsch genannt hast, den ein Mensch nur haben kann, werde ich nicht nur deinen Wunsch erfüllen, sondern dir auch ein Leben lang zu Diensten sein, so wie ich es bisher nur dem König war.

Du sollst reisen und die Welt verstehen lernen und immer, wenn du meinen Rat brauchst, ist es dir gestattet, mich zu befragen.

Jedes Tier, das dir begegnet, und jeder Lufthauch, den du fühlst, wird dir meine Antwort mitteilen; denn ich bin die Seele der Tiere und das Herz des Windes und alle Tiere sprechen zu mir und in meiner Brust höre ich die Stimme der Lüfte.

So ist mir alles bekannt, was die Tiere wissen und erfahren, und von allem, was der Wind streichelt, bewegt oder zerstört, erfahre ich und werde dir durch die Tiere und den Wind Antwort auf deine Fragen geben.

Morgen sollst du reisen, bringe mich jetzt aber zum König; denn er erwartet mich.“

Da erkannte der Page, daß der König so weise war, weil er auf die Seele der Tiere und auf das Herz des Windes hörte, und er wußte auch, daß er dieses Geheimnis niemandem verraten durfte. Der Tochter des Königs aber sagte er:

„In der Schüssel liegt nur das Gold des Königs.“

Und die Prinzessin war mit der Antwort zufrieden.

 

„Raube das Licht aus dem Rachen der Schlange!“

Hans Carossa

 

Claudio de Ceola – 13.Februar 2003 – für Lola daNana.

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